Die Straße zwischen Herzberg und dem Dorf Sieber, dem Ort, wo der 89. SAT-Kongress vom 16. 7. bis zum 23. 7. 2016 abgehalten wurde, war wegen dringender Baumaßnahmen geschlossen. Ein etwa 30 Kilometer langer Umweg schlängelte sich durch den dichten Wald des Harzes. Der improvisierte Fahrdienst zwischen Sieber und Herzberg hat aber mit Ach und Krach funktioniert. Sieber ist stark auf Tourismus ausgerichtet. Spuren des einst blühenden Bergbaus sind hier vielerorts sichtbar.
SAT bezeichnet sich im Namen als „tutmonda“. Aber um wirklich eine weltweite Organisation zu sein, reicht es nicht, sich so zu bezeichnen. Die Mitgliedschaft von SAT ist so verteilt, wie Esperantosprechende überhaupt: sehr ungleich, europalastig. Diesmal gab es aber einen Qualitätssprung, was die Herkunft der Teilnehmer betrifft: mehrere reisten aus Nepal, Korea, China und Japan an, sowie einzelne aus Senegal, Madagaskar und Australien. Insgesamt kamen 85 SAT-Mitglieder und -Nichtmitglieder aus 21 Länder. Seit einigen Jahren blüht eine SAT-Gruppe in Südkorea, und der Kongress nahm ihren Vorschlag gern an, den nächsten SAT-Kongress in Seoul zu veranstalten. Er wird der erste in Asien sein.
Die Arbeitsvollversammlungen behandelten die üblichen Tätigkeitsberichte usw. Etwas Debatte entwickelte sich um kontroverse Inhalte, die gelegentlich im Verbandsorgan Sennaciulo erschienen sind. Betont wurde noch einmal, dass SAT trotz radikaler Linksorientierung versucht, sich über Tendenzen hinwegzusetzen und Mitglieder wie Nichtmitglieder den unzensierten Ausdruck zu ermöglichen. Umstritten blieb aber, ob die Freiheit des Wortes praktisch unbegrenzt sein sollte, oder ob der allgemeine anationale proletarisch-esperantistische Rahmen des Statuts Grenzen setze. Arbeitsgruppen behandelten dieses Thema, sowie auch die weitere Entwicklung des Webauftritts, Kontakte zu isolierten Mitgliedern und Beziehungen zu befreundeten Organisationen (sowohl mit und ohne Esperanto-Bezug).
Ein neues Schauspiel – La kredito von Jordi Galcerán in einer Ãœbersetzung von Jerzy Handzlik – wurde von Handzlik und Sa?a Pilipovic (vom Theater Verda Banano) vorgestellt: das Publikum hat von Anfang bis Ende bei der lebensechten Darstellung Spaß gehabt.
Unterhaltsam waren auch drei Musikabende (abgesehen vom improvisierten Singen der Teilnehmer außerhalb des Programms). Die Siebertaler, eine Volksmusikgruppe aus dem Dorf mit einer beeindruckenden Jodlerin (ja, auch im Harz hat Jodeln eine Tradition!), und ein Student aus der Ukraine traten auf. Zwei waren auf Esperanto, der erste Kongressabend mit Ralph Glomp, und der zweite ein Liederabend mit Jacques Le Puil, auf der Klarinette von Serge Sire begleitet, bei dem auch politische Lieder aus dem französischen und italienischen Repertoire zu hören waren.
Wie immer gab es eine Verkaufsstelle für Bücher, T-shirts und andere Waren, z.B. die DVD über die Esperanto-Gemeinschaft (bzw. -Bewegung), die 22 Sprachversionen enthält. Hier gab es auch Neuigkeiten von der Kooperativen Verlagsabteilung, wie der neue Comic La Rejnoro (Wagners Rheingold nacherzählt), von Georges Lagrange übersetzt und von Serge Sire gezeichnet.
Von einem Teilnehmer aus Deutschland, der sich hier besonders engagiert, und den Teilnehmern aus Nepal wurden die Pläne für den Bau eines Esperanto-Zentrums in Kathmandu detailliert erläutert.
Der Ganztagsausflug führte diesmal nach Hannover. Der Halbtagesausflug in Herzberg begann im Welfenschloss und führte weiter zu Sehenswürdigkeiten, die mit Esperanto zu tun haben: wegen einiger Esperanto-Institutionen, die sich in Herzberg angesiedelt haben, firmiert diese ganz offiziell als „Esperanto-Stadt“. Schilder, die den Weg zum Esperanto-Haus zeigen, sind vielerorts in der Stadt sichtbar.
Mehrere „Fraktionen“ (Plattformen in SAT) hielten Jahresversammlungen ab. Gut besucht von Mitgliedern und Neugierigen war die Versammlung der Vegetarischen Fraktion. Teilnehmer berichteten über ihre persönlichen Motive, vegan, vegetarisch oder omnivor zu sein. Esperantosprechende und besonders SAT-Mitglieder sind „early adopters“ der zunehmend verbreiteten veganen Lebensweise.
Eine große Gruppe hörte einen Vortrag von Rob Moerbeek über den Weltföderalismus: eine Idee, die zum Anationalismus einiger SAT-Mitglieder und der bewußten Nationsferne der ganzen Organisation Ähnlichkeiten aufweist. Schon immer gab es viele Esperantisten bei den Weltföderalisten, namentlich in der 1942 gegründeten Universala Ligo. In einem ähnlichen Sinn agiert die Bewegung der Weltbürger, eine weitere Gruppe, in der Esperantisten aktiv sind.
Viele Vorträge und Debatten berührten ein heute unausweichliches Thema: Ökologie und Umweltschutz. Guy Martin besprach Klimawandel und Kapitalismus. Arko sprach über Umweltfolgen des Verkehrszuwachses in China und die Bemühungen des Staates, die Luftqualität zu verbessern. Bert De Wit sprach über mögliche Szenarien einer grünen Zukunft (und auch über die Zukunft der Esperanto-Bewegung). Andreas Langhoff über Eine Welt und Fair Trade mit Verkostung von Kaffee, Säften und Schokolade aus dem „fairtrade“-Sortiment. Kontrovers waren der Vortrag von Vito Markov über Tierrechte und die anschließende Debatte – was nicht erstaunlich ist bei einem Konzept, das nicht einmal bei Linken schon zum allgemeinen Gedankengut gehört. Zur Sprache kam die Fehlregulierung von Populationen durch den Menschen (nicht nur bei Wildtieren, sondern auch bei den Milliarden von Individuen, die für den menschlichen Verbrauch gezüchtet werden). Weitere Programmelemente mit Ökologiebezug waren die Fraktionssitzungen der Vegetarischen Fraktion und der Grünen.
Die Vielfalt der während der Woche besprochenen Themen spiegelt sich in der Erklärung des Kongresses wieder, in der zwei Schwerpunkte auszumachen sind: der aus kapitalistischem Wachstumswahn erwachsende ökologische Schaden, insbesondere der Klimawandel, und die Notwendigkeit, das Recht von Migranten auf weltweite Bewegungsfreiheit zu respektieren.
Der letzte Abend wurde von Kongressteilnehmern spontan gestaltet, mit Liedern und mit einer Versteigerung.
Wie üblich ging auch dieses Jahr nicht alles reibungslos vonstatten. Die meisten Teilnehmer, die einen Programmbeitrag vorbereitet hatten, erfuhren erst nach der Ankunft den Tag und die Zeit, die für sie vorgesehen waren, und bei einem Teilnehmer aus Korea, einem Maler, wurden beide Programmbeiträge gleichzeitig angesetzt. Besonders geeignet war diesmal das Hotel, in dem die meisten Aktivitäten stattfanden. In einem Hotel zu sein, das von einem Esperantisten geführt wird, hat vieles erleichtert.
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